Küss mich Shirley

Gedanken über Filmküsse, für die Zeitschrift „Schnitt“, 2010

Mit etwas Glück schmeckt er gut. Der Kuss. Und dann spielt sich im Kopf gewaltiges ab: Da ist jemand, der sich mir anvertraut. Endlich, plötzlich, immer noch oder trotz alledem.

Das ist so selbstverständlich, dass man als Filmemacher gerne glauben möchte, ein Kuss im Film funktioniert ähnlich wie im Leben. Die Zuschauer werden schon mitgehen, denn sie wissen ja was gemeint ist. Sie werden verstehen, erleichtert sein oder vor Wut platzen über das was auf der Leinwand passiert.

Aber natürlich ist das eine Falle. Ich denke an einen frühen Dreh wo ich bei einer Kussszene einfach nicht locker lassen wollte. ‚Noch etwas inniger…’ hab ich den Darstellern geraten, wenn auch so respektvoll wie möglich, aber vor allem aus der Ratlosigkeit heraus, dass sich bei mir gerade nicht die Gefühle einstellen, die sich eigentlich für die Figuren und die Szene einstellen sollten. Und die auch die Schauspieler meistens zu ihren Figuren haben.

Dabei können mir die guten Schauspieler da gar nichts abnehmen. Es geht nicht darum wie sie küssen. Es geht darum warum sie küssen. Und auch warum jetzt.
Mir fällt ein Spruch über Tränen ein: ‚Wenn Du Tränen inszenierst, frag Dich wer denn eigentlich weinen soll: Deine Figuren oder Deine Zuschauer?’
Ein bewährter Trick ist dann, die Figur nicht losweinen, sondern sie gegen ihre Tränen ankämpfen zu lassen. Wird man dann Zeuge dieses inneren Kampfes, kann man sich tatsächlich besser in die Figur einfühlen.

Wenn ich diesen Gedanken aufs Küssen übertrage denke ich: Nicht der Kuss selbst ist interessant, sondern der Moment davor. Wenn die Figuren noch gegen das Küssen ankämpfen. (Eine RomCom funktioniert ja sogar ganz und gar über diesen Effekt. Man kennt das Paar doch schon vom Filmplakat, aber trotzdem weigern sie sich einfach den ganzen Film über zusammenzukommen.)

Die Frage ist, womit ein Kuss aufgeladen ist. Welche Geschichte dahinter steckt und welche Absicht. Noch deutlicher springt einem diese Frage bei Liebesszene entgegen: Eine Sexszene bringt erst einmal alle Beteiligten in Verlegenheit. Aber was dann sehr beruhigen kann, ist der Kontext der Szene. Geht es der Figur ums benutzen, beweisen, schenken oder aufgeben? Ich glaube man kann das Vertrauen eines Schauspielers vor allem dann gewinnen, wenn man mit ihm erarbeitet, was seine Figur in diesem Moment erreichen will. Dann steht er auch nicht mit seiner eigenen, ungeschützten Sexualität nackt da. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Dazu probe ich diese Szenen, einschließlich der Kussszenen, bis ins Detail. Ich bespreche jeden Blick, jede Geste und jede Position. Manche Schauspieler finden das auch albern. Aber es passiert etwas erstaunlich Sinnvolles: wegen meiner fast übertriebenen Fürsorge übernehmen die Schauspieler Verantwortung. Erst für die Situation, und dann auch für ihre Figur.

Zwei Liebesszenen die mich in diesem Zusammenhang besonders beeindruckt haben sah ich in Nicolas Roegs ‚Don’t look now’ und Pedro Almodovars ‚Átame!’. In der ersten wird wunderbar ehrlich Sex als etwas Alltägliches erzählt: Dieses Paar schläft gerne miteinander. Um viel mehr gehts da nicht. Aber in dem Kontext, dass die beiden nur ein paar Szenen zuvor ihre Tochter verloren haben, wird dieser Moment zum Hoffnungsschimmer einer beeindruckenden Beziehung. Almodovar dagegen lässt den Zuschauer durch einen Trick die Lust seiner beiden Hauptfiguren nachempfinden: Antonio Banderas kommt von einer Schlägerei zurück und scheitert dann beim Sex mit Victoria Abril wegen seiner vielen blauen Flecke. Also besprechen die beiden jede Bewegung, jeden Griff, jede Umdrehung. Es entsteht ein verbaler Porno, der in einem anderen Zusammenhang grotesk wäre, aber unter der absurden Not der beiden berührt, und wirklich sexy ist.

Und um zum Küssen bzw. Nicht-Küssen zurückzukommen: Mein liebstes ‚Ich liebe Sie’ sagt Jack Lemmon zu Shirley MacLaine kurz vor dem Abspann von Billy Wilders ‚The Apartment’. Ich mag diese Szene, weil Shirley MacLaine nach dem Liebesbekenntnis einfach die Spannung hält, und den Kuss eben weiter verweigert. Sie drückt Jack Lemmon ruhig die gemischten Spielkarten in die Hand, sagt ihm dass er austeilen soll und zieht sich gerade mal ihre Jacke aus, um es sich etwas gemütlicher zu machen. Und dann steht da einfach ‚The End’ und man möchte platzen, weil man sich immer noch nicht sicher sein kann wann und wie die beiden denn endlich mal übereinander herfallen.

Denn am Ende steht ja die Frage: Sollen Deine Figuren knutschen, oder Deine Zuschauer wenn sie aus dem Kino kommen?